Lange schätzten westliche Politiker den russischen Präsidenten Wladimir Putin als verlässlichen Partner ein. Dies änderte sich mit dem Krieg in der Ukraine.
Lange schätzten westliche Politiker den russischen Präsidenten Wladimir Putin als verlässlichen Partner ein. Dies änderte sich mit dem Krieg in der Ukraine.

von Dr. Christian Osthold


Am 12. Juli 2021 hat der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin einen Essay zur «historischen Einheit von Russen und Ukrainern» vorgelegt. Darin befasst er sich mit der Ukraine als souveränem Nationalstaat. Im Lichte des russischen Angriffskrieges gegen Kiew erscheint der Text nun erstmals in seiner wahren Gestalt: Er ist das ideologische Manifest eines Diktators, der entschlossen ist, seine Ziele mit brutaler Gewalt und auf Kosten zahlloser Opfer zu erreichen.

Wenn es nach Wladimir Putin geht, gibt es auf die ukrainische Frage nur eine Antwort. Sie besagt, dass die Ukrainer organisch mit der russischen Nation verbunden sind. Die Ukraine ist demnach aus Russland heraus entstanden und kann folglich auch nicht ohne Russland existieren. Daraus zieht der russische Präsident eine radikale Konsequenz: Die Ukrainer dürfen kein selbstbestimmtes Dasein haben. Dieser von Wladimir Putin verkörperte ideologische Imperativ kann in letzter Konsequenz nur die totale Zerstörung der Ukraine bedeuten. Die Vernichtung der Stadt Mariupol, wo mittlerweile Menschen verhungern, legt davon Zeugnis ab.

Pathologischer Hass als Leitmotiv?

In seiner Rede vom 24. Februar 2022 an das russländische Volk hat Wladimir Putin ätzendes Gift ausgespien. Es wurde deutlich, dass er von einem pathologischen Hass auf die Ukraine beseelt ist. Der Schlüssel zur Gedankenwelt des russischen Präsidenten findet sich in seinem Essay. Hier richtet er die These auf, dass Russen, Ukrainer und Weißrussen als Erben der alten Rus’ bis heute untrennbar miteinander verbunden seien. In einem daran anknüpfenden historischen Exkurs betrachtet er den «Ewigen Frieden» von 1686. Dabei handelt es sich um einen Friedensvertrag, den Polen-Litauen und das Zarenreich geschlossen hatten, um ihre territorialen Interessen miteinander abzustimmen.

Auf seiner Folie identifiziert Putin weite Teile der heutigen Ukraine als genuin russisch. Dies gilt für Kiew und ihren gesamten linksufrigen Teil einschließlich der Provinzen Poltawa, Tschernigiw und Saporischschja. Die betreffenden Ländereien sind in der russischen Historiographie als «Kleinrussland» bekannt – ein Begriff, der in Putins Denken eine zentrale Rolle einnimmt. Gleiches gilt für «Neurussland» . Dieses umfasst jene Schwarzmeergebiete, die das Zarenreich im 18. Jahrhundert unter Katharina der Großen unterworfen hatte. Die 1783 nach der Zerschlagung des gleichnamigen Tataren-Khanats eroberte Krim betrachtet Putin ebenfalls als originär russisch. Für ihn bedeutet das: Ukrainer können dort nur als Untertanen Moskaus leben.

Solche Skizzen sind nicht neu. Historiker haben sich in Russland vielfach auf sie berufen, um staatliche Gebietsansprüche zu begründen. Bis 1917 hatte die Systematik von Klein- und Neurussland sogar dem offiziösen Geschichtsbild im Zarenreich entsprochen. Damals stand die ukrainische Intelligenzija unter erheblichem Druck. Am 30. April 1876 hatte Alexander II. mit dem «Emser Erlass» die Verbreitung von literarischem Schrifttum in ukrainischer Sprache unter Strafe verboten. Diese Maßnahme zielte darauf ab, die geistige Kultur der Ukraine zu zerstören. Der Zar weigerte sich, den «Kleinrussen» eine eigene, von Russland gelöste Identität zuzugestehen. Aus diesem Grund war bereits 1863 das «Walujewsche Zirkular» in Kraft getreten, wonach wissenschaftliche Publikationen nicht mehr auf Ukrainisch erscheinen durften.

Historiker mögen darüber debattieren, inwieweit die zur Rechtfertigung dieser Politik vorgetragenen Argumente in jenen Tagen stichhaltig gewesen sein mögen. Nach 150 Jahren ist es jedoch müßig, ihr verworrenes Netz zu entflechten, weshalb diese Aufgabe der Geschichtswissenschaft vorbehalten ist. Niemals aber darf sie als Grundlage staatlicher Außenpolitik fungieren. So basiert die europäische Friedensordnung nach 1945 im Kern auf der Unantastbarkeit der festgelegten Grenzen. Aus diesem Grund strebt Deutschland heute nicht mehr danach, die Provinzen jenseits der Oder zurückzuholen, hat sich Polen damit abgefunden, dass Galizien heute zur Ukraine gehört. Obwohl diese von den Verhältnissen diktierten Kompromisse bei den betreffenden Zeitgenossen lange auf Ablehnung stießen, wurden sie nie zu einer systematischen politischen Programmatik. Stattdessen garantierten sie den Frieden.

Wladimir Putin öffnet die Büchse der Pandora

Staatsmänner, die das historische Argument instrumentieren, um die emotionale Unterstützung der Massen zu gewinnen, spielen mit dem Feuer. Jene unter ihnen, die entschlossen sind, die damit verbundenen Ideen in politische Realität umzusetzen, öffnen hingegen die Büchse der Pandora. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es in Europa niemand gewagt, diesen fundamentalen politischen Grundsatz zu verletzen. Außer Wladimir Putin. Die in seinem Essay skizzierte Weltsicht vermittelt einen intimen Einblick in die geistige Pathologie eines Mannes, der keine Skrupel hat, jene zu vernichten, die sich seinem Willen nicht beugen wollen.

Der russische Präsident ist der Ansicht, dass ukrainische Staatlichkeit seit jeher auf die Bestrebungen von Nationalisten zurückgeht, worunter er Nazis und Faschisten versteht. Das ist nicht nur unzutreffend, sondern auch ein politisch gefährlicher Anachronismus. Die 1918 gegründete Westukrainische Volksrepublik, die von einer Koalition bürgerlicher Kräfte getragen wurde und sich in dezidierter Abgrenzung zu den Bolschewiki positionierte, verunglimpft Putin in diesem Sinne als nationalistisch. Ihr Gebilde sei bloß «quasi-staatlich» gewesen. Es habe nicht bestehen können, weil es sich auf dem Territorium des ehemaligen Russischen Reiches befunden habe. In Putins Denkungsart kann auf Gebieten, die in der Vergangenheit einmal zum Zarenreich gehört hatten, nur ein russischer Staat existieren.

Die apodiktische Bestimmtheit, mit der Putin seine Urteile über das Schicksal von Millionen Menschen fällt, erinnert an die großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu Adolf Hitler, der mit «Mein Kampf» ein verworrenes politisches Manifest hinterlassen hat, drückt sich Wladimir Putin in den entscheidenden Momenten überaus klar aus. Immer wieder bringt er seine zentralen Gedanken im Dickicht ideologischer Scholastik prägnant zum Ausdruck. Dazu zählt die Essenz: «Russland ist bestohlen worden». Dieser Gedanke ist nicht nur einer von vielen Fäden im komplizierten Netz von Putins Motivation, gegen die Ukraine vorzugehen. Er hat für ihn gleichsam fundamentale Bedeutung. Dieses schrille ideologische Klischee ist eine Variation des klassischen Narrativs, wonach Russland permanent von äußeren Feinden bedroht wird. Seit 2012 gelang es den «Silowiki», diese Erzählung als offizielle Staatsdoktrin durchzusetzen, nachdem sie zuvor die Fraktion liberaler Reformer marginalisiert hatten, deren prominentester Vertreter Boris Jelzin gewesen war.

Der Westen als Erzfeind

In dieser Optik erscheint der Westen als erbitterter Feind der Russen. Gleiches gilt für seine Verbündeten. Anstatt die Beraubung Russlands anzuerkennen – so lautet Putins Vorwurf – neigten die Führer der Ukraine und ihre ausländischen Hintermänner dazu, Moskau die Verbrechen des Sowjetregimes zuzuschreiben. Dazu zählten auch solche, mit denen weder die KPdSU noch die UdSSR etwas zu tun gehabt hätten. Putin empört sich darüber und konstatiert, die von den Bolschewiki vorgenommenen territorialen Verstümmelungen Russlands würden im Westen nicht als Verbrechen, sondern als Erfolg betrachtet. Das ist für ihn der Beweis für die feindseligen Absichten der dortigen Mächte.

Wenn der russische Präsident seine Phantasie Amok laufen lässt, indem er sich in verschwörungstheoretischen Ideen wie der Vernichtung Russlands ergeht, wird deutlich, dass er ein historischer Laie ist. Weder hat er den Forschungsdiskurs der letzten dreißig Jahre zur Kenntnis genommen, noch die betreffenden Quellen gesehen. Indem Putin Russland zu einem Opfer Lenins verklärt und die Verantwortung für die im Namen seiner Partei begangenen Verbrechen kategorisch zurückweist, würgt er jenen schwerverdaulichen Brei hervor, mit dem die Vertreter der alten Ordnung Millionen Russen seit 1991 geistig zwangsernährt haben: nämlich, dass die Sowjetunion trotz der präzedenzlosen Gepflogenheiten der Gewalt unter Stalin und der Unmenschlichkeit ihres politischen Systems ein integrer Staat gewesen ist. Ein gleichsam heiliges Reich, das nicht an seinen eigenen Antagonismen zugrunde ging, sondern von inneren und äußeren Feinden zerstört wurde.

Erhellend ist auch, was Putin über die republikanischen Grenzen innerhalb der Sowjetunion sagt. Diese hätten zwar existiert, jedoch seien sie nicht als solche wahrgenommen worden. Vielmehr hätten sich die sowjetischen Bürger im ganzen Land zu Hause gefühlt. Wenn Putin von «Sowjetbürgern» spricht, dann meint er die Russen. Auf die heutige Ukraine übertragen, bedeutet das, dass seine nach 1991 außerhalb des Mutterlands verblieben Landsleute auch weiterhin das Gefühl hatten, in Russland zu leben. Durch den Zerfall der Sowjetunion seien sie plötzlich zu Ausländern im eigenen Land geworden.

Diese Feststellung ist nicht falsch. Andererseits kann sie aber auch nicht zu einer allgemeingültigen Norm erhoben werden. Die Russen des Nordkaukasus beispielsweise hatten zu Sowjetzeiten in der RSFSR, der russischen Sowjetrepublik, gelebt. Dass sie sich dort nach 1991 noch zu Hause fühlten, darf allerdings stark bezweifelt werden. Denn obwohl das Zarenreich diese Region 1864 endgültig unterworfen hatte, waren die in der Region angesiedelten Russen dort nie heimisch geworden.

Russische Geschichtsklitterung

Putin behauptet, größten Respekt für die nationalstaatlichen Bildungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken zu empfinden. Umso zynischer erscheint daher sein Befund, diese hätten sich nach dem Zerfall der UdSSR auf ihre Grenzen von 1922 beschränken müssen. Dass es anders kam, empfindet er als unerträgliche Ungerechtigkeit. Trotzdem habe die Russische Föderation die neuen Grenzen akzeptiert. Dabei habe sie eine besondere Verbundenheit zur Ukraine empfunden und ihr auf dieser Grundlage zwischen 1991 und 2013 vollumfängliche Wirtschaftshilfe angedeihen lassen. Durch vergünstigte Gaspreise habe die Ukraine in diesem Zeitraum 82 Milliarden Dollar gespart, während sie bis zuletzt 1,5 Milliarden Dollar für den Transit nach Europa erhalten habe.

Eine große Schwäche von Putins Analyse besteht in der Interpretation vergangener Ereignisse. Bis heute ist vielfach angezweifelt worden, dass ein Mann aus St. Petersburg dazu fähig sein könnte, die Lebenswirklichkeit der Menschen in der Ukraine adäquat zu beurteilen. Mittlerweile ist klar: Putin kann es nicht. Gleichwohl betont er, dass sich Russland und die Ukraine jahrzehntelang als einheitliches Wirtschaftssystem entwickelt hätten. Schwärmend stellt er fest, ihre Verflechtung sei so eng gewesen, dass die Staaten der Europäischen Union nur von ihr träumen könnten. Dass die ukrainische Wirtschaft nach 1991 schrittweise zugrunde gegangen sei, müsse indes ausschließlich den Eliten des Landes angelastet werden. Anstatt das sowjetische Erbe in gebührender Weise zu würdigen, hätten diese voreilig ihre Unabhängigkeit gegenüber Russland proklamiert und der eigenen Bevölkerung dabei leere Versprechungen gemacht. Dazu zähle auch, die ukrainische Wirtschaft zu einer der stärksten in Europa zu entwickeln.

Wladimir Putin ist überzeugt, dass dieser Plan an der Unfähigkeit der ukrainischen Führung gescheitert ist. Ihre Inkompetenz zeichne dafür verantwortlich, dass die Produktivität im Maschinenbausektor zwischen 2011 und 2021 um 42 Prozent gesunken sei. Gleiches gelte für die nationale Stromerzeugung, die sich seit 1991 nahezu halbiert habe. Schließlich habe das Pro-Kopf-BIP zuletzt nur noch weniger als viertausend Dollar betragen und damit unter dem Albaniens, Moldawiens und des (von Russland nicht anerkannten) Kosovo gelegen. Infolgedessen sei die Ukraine 2021 zum ärmsten Land Europas geworden. Diese Entwicklungen bündelt Putin zu einem schwerwiegenden Vorwurf: nämlich, dass die ukrainische Führung das Erbe der eigenen Väter geschändet hat. Dies gelte umso mehr, als das Volk der Ukraine arbeitsam und talentiert sei. Dabei stellt Putin fest: Millionen Ukrainer sind Russland in aufrichtiger Liebe verbunden; und auch die Russen empfinden so.

Daher habe sich Moskau auch nach 2014 um gute Beziehungen zu Kiew bemüht, obwohl die Russische Föderation bereits als Aggressor diffamiert worden sei. Mit seiner Nachsicht habe der Kreml dem Wunsch der ukrainischen Bevölkerungsmehrheit Rechnung getragen, im Verbund mit Russland zu leben. Das politische Kiew wiederum habe dieses Ansinnen vorsätzlich ignoriert und damit seine eigenen Ambitionen über den Willen des Volkes gestellt. Putin hält das für inakzeptabel. Die politischen Führer der Ukraine klagt er an, die gemeinsame Vergangenheit zugunsten ihrer Unabhängigkeit von Moskau geopfert und die Geschichte umgeschrieben zu haben. Dies gelte auch und gerade für den «Holodomor». Stalin hatte im Herbst 1932 entschieden, die Tötung durch Hunger als Waffe gegen die ukrainische Landbevölkerung einzusetzen. Dieser Politik fielen schließlich bis zu 7,5 Millionen Menschen zum Opfer. Putin ist der Ansicht, die Hungersnot sei eine «Tragödie» gewesen, die Ukrainer wie Russen gleichermaßen betroffen habe.

Eine präzedenzlose Heuchelei

Zynische Relativierungen wie diese sind freilich nicht die einzigen Schwachstellen von Putins Essay. Weite Teile seiner Argumentation sind einfach nur paradox. So wirft er den ukrainischen Oligarchen vor, staatliche Ressourcen gestohlen und die damit verdienten Gelder in den Westen abgeführt zu haben. Hierzu schreibt er: „Immer kühner und unverhohlener erklärten radikale und Neonazis ihre Ambitionen. Diese wurden sowohl von offiziellen Behörden als auch von lokalen Oligarchen verwöhnt, die – nachdem sie das Volk der Ukraine beraubt hatten – ihr Diebesgut in westlichen Banken verwahrten. Dies Leute sind bereit, ihre eigene Mutter zu verkaufen, um sich Kapital anzueignen.“

Solche Aussagen Putins ersticken an ihrer eigenen Heuchelei. Kaum ein Satz, der in der jüngeren Vergangenheit geschrieben worden ist, dürfte jene politischen Verhältnisse treffender beschreiben, die Putin seit seiner Wahl zum russischen Präsidenten selbst etabliert hat: Kleptokratie als Staatsform. Aber auch an anderer Stelle versteigt sich Putin zu der absurden Praxis, anderen seine eigene Politik als Verbrechen vorzuwerfen. So bezichtigt er westliche Staaten, die ukrainische Kultur seit jeher gering zu schätzen und behauptet, nur Russland könne die Ukraine verstehen.

Deswegen ist Putin überzeugt, dass 2014 Nazis und Faschisten die Macht in Kiew an sich gerissen hätten. Diese Gruppe, zu er auch «den gegenwärtig amtierenden Präsidenten» zählt, beschuldigt er, eine systematisch gegen Russland gerichtete Politik zu verfolgen. Darin glaubt er das Ergebnis westlicher Agitation zu erkennen. Demnach habe der Westen seit 1991 eine Barriere zwischen Russland und der Ukraine errichtet und das Land damit in ein «gefährliches geopolitisches Spiel» hineingezogen. Im Ergebnis sei auf ihrem Staatsgebiet ein feindlicher Block entstanden, den Putin als «Anti-Russland» bezeichnet. Dieser Begriff wird in den russischen Staatsmedien regelmäßig verwendet, zuletzt von Pressesprecher Dmitrij Peskov gegenüber CNN. Eine solche Bedrohung werde Russland niemals akzeptieren, da Kiew der Bevölkerung eine Veränderung seiner Identität aufzwinge. Diese Praxis schränke die Menschen nicht nur in ihrer natürlichen Entfaltungsfreiheit ein, sondern unterwerfe die in der Ukraine lebenden Russen einer kulturellen Assimilation.

Dieser Befund ist zutiefst widersprüchlich. Denn wenn die Ukrainer doch eigentlich Teil der russischen Nation sind, wie kann von ihrer Kultur dann eine Bedrohung für die russische Identität ausgehen? Wladimir Putin bleibt die Antwort auf diese Frage schuldig. Klar ist für ihn indes, dass das russische Volk durch die künstliche Trennung von den Ukrainern dezimiert werde; zunächst um Hunderttausende, dann um Millionen. Dies müsse verhindert werden. Mit diesem Imperativ offenbart Putin seine völkische Denkungsart, die stark an die Weltsicht der Nationalsozialisten erinnert. Auch Hitler wähnte das deutsche Volk in existenzieller Gefahr. Sollte es ihm nicht gelingen, sich neuen Lebensraum zu sichern, würde es untergehen. Für Wladimir Putin geht es nicht darum, neuen Lebensraum zu erobern, sondern den alten wiederherzustellen. Wie man seit vier Wochen in der Ukraine sehen kann, läuft diese Politik auf ähnliche Ergebnisse hinaus wie ihr nationalsozialistisches Pendant.

Putin als Retter der russischen Zivilisation

Die von den ukrainischen Eliten verkörperte Bedrohung der russischen Zivilisation glaubt Putin auch auf spiritueller Ebene zu erkennen. In diesem Zusammenhang stellt er fest:

«Sie treffen auch unsere spirituelle Einheit. Wie zu Zeiten des Großherzogtums Litauen begannen sie mit einer neuen Kirchenabgrenzung. Ohne zu verbergen, dass sie eigentlich politische Ziele verfolgten, griffen die weltlichen Behörden grob in das kirchliche Leben ein und provozierten ein Schisma, wobei es zur Beschlagnahme von Kirchen sowie zu Gewalt gegen Priester und Mönche kam. Selbst die weitgehende Autonomie der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche passt ihnen nicht, obwohl sie doch die spirituelle Einheit mit dem Moskauer Patriarchat aufrechterhält. Sie kommen nicht umhin, dieses sichtbare, jahrhundertealte Symbol unserer Verwandtschaft um jeden Preis zerstören».

Immer wieder wird deutlich, dass Putin eine zutiefst persönliche Verachtung gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine hegt. In geradezu retromanischer Weise trauert er deshalb dem gemeinsamen Kampf gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg nach. Damals seien Russen und Ukrainer Seite an Seite zu den Waffen geeilt, um ihre gemeinsame Heimat gegen den Feind zu verteidigen. Dass sich die Bolschewiki die Ukraine 1920 mit Gewalt einverleibt hatten und ukrainische Partisanen noch bis 1953 gegen die Sowjetmacht kämpften, erwähnt er nicht.

Zum Ende seines Textes greift Putin auch das Narrativ eines Völkermords an den Bewohnern des Donbass auf. Zwischen 2014 und 2021 seien dort mehr als 13.000 Menschen von der ukrainischen Armee ermordet worden, darunter Frauen, Kinder und Alte. Trotz dieses Verbrechens habe sich Russland dauerhaft um eine Verständigung bemüht, sei dabei jedoch ausschließlich auf Ablehnung gestoßen. Diese Zurückweisung sei umso verwerflicher, als Kiew das Donbass doch eigentliche gar nicht brauche und sich die dortige Bevölkerung niemals unter ein ukrainisches Primat stellen werde. Im Gegensatz zum Rest des Landes habe man dort längst verstanden, dass die Ukraine in ein «Protektorat unter der Kontrolle westlicher Mächte» verwandelt werden solle.

Putin weist darauf hin, dass der Westen die Ukraine verführt habe. Dabei verfolge er den Plan, in ihrer Gesellschaft ein Klima der Angst zu schaffen, um anschließend NATO-Streitkräfte im Land zu stationieren. Anstatt seine leeren Versprechen zu halten, habe der Westen die Ukrainer aber im Stich gelassen und betrogen. Dass Russland in letzter Instanz von der NATO angegriffen werde, erwähnt Putin zwar nicht explizit, doch ist klar, dass er dieses Szenario für real zu halten scheint.

Eine Kriegserklärung an die Ukraine

Noch bezeichnender ist das Folgende: Wladimir Putin ist der Ansicht, dass in der Ukraine Millionen Menschen staatlicher Repression einschließlich gezielter Tötungen zum Opfer fielen. Als Grund nennt er, dass sie von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machten. Dass der russische Präsident Dissidenten und Kritiker seit Jahren nicht nur zu Hause, sondern auch in Europa ermorden lässt, erwähnt er nicht. Aus den vermeintlich von Kiew orchestrierten Menschenrechtsverletzungen an Russen in der Ukraine leitet Putin schließlich eine unmissverständliche Drohung ab. Dabei äußert er:

«Zu einem richtigen Patrioten der Ukraine wird jetzt nur noch erklärt, wer Russland hasst. Die gesamte ukrainische Staatlichkeit, wie wir sie verstehen, soll in Zukunft ausschließlich auf dieser Idee aufbauen. Hass und Bitterkeit – die Weltgeschichte hat dies mehr als einmal bewiesen – sind jedoch ein sehr wackeliges Fundament für Souveränität, das mit vielen ernsthaften Risiken und schwerwiegenden Folgen behaftet ist. Wir verstehen alle Tricks, die mit dem Projekt «Anti-Russland» verbunden sind. Und wir werden niemals zulassen, dass unsere historischen Gebiete und Menschen, die uns nahestehen, gegen Russland eingesetzt werden. All jenen, die einen solchen Versuch unternehmen, möchte ich sagen, dass sie auf diese Weise ihr Land zerstören werden.»

Dieser Satz ist nicht nur der Kulminationspunkt von Putins Hass auf die Ukraine als souveräner Staat und ihre westlichen Partner. Er ist vor allem auch eine Kriegserklärung an ein Volk, das die Dämonen seiner Vergangenheit hinter sich lassen will. Dieser von Frustration und Verzweiflung genährte Grimm speist sich aus dem pseudoreligiösen Glauben, dass Russen und Ukrainer eine untrennbare, organisch verwachsene Einheit darstellen, die durch nichts zu lösen sei. «Wir sehen sie als die Unsrigen an» schreibt Putin dazu und ergänzt:

«Mit Achtung treten wir der ukrainischen Sprache und Tradition gegenüber. Und wir respektieren das Streben der Ukrainer, ihren Staat frei, sicher und erfolgreich zu sehen. Ich bin überzeugt, dass eine vollumfängliche Souveränität der Ukraine ausschließlich in einer Partnerschaft mit Russland möglich ist. Unsere spirituellen, zwischenmenschlichen und zivilisatorischen Bande haben sich in vielen Jahrhunderten herausgebildet. Sie reichen zu denselben Ursprüngen zurück und haben gemeinsame Herausforderungen, Errungenschaften und Siege erlebt. Unsere Verwandtschaft wird von Generation zu Generation weitergegeben. Sie liegt in den Herzen, in der Erinnerung der Menschen, die im modernen Russland und in der Ukraine leben. Sie lebt in den Blutsbanden, die Millionen unserer Familien vereinen. Gemeinsam waren und sind wir schon immer um ein Vielfaches stärker und erfolgreicher gewesen. Schließlich sind wir doch ein Volk. Bestimmte Kreise [der Westen] betrachten diese Worte als Posse. So verschieden man diese Worte auch interpretieren kann, werden mich doch Viele hören, wenn ich sage: Russland ist zu keinem Zeitpunkt eine Anti-Ukraine gewesen und wird es auch niemals sein. Was hingegen die Ukraine sein möchte, entscheiden ihre Bürger.»

Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich folgender Befund erheben. Wladimir Putin lebt in einer Traumwelt, die er sich selbst erschaffen hat. In einer Realität, die vom Zierrat der Macht geprägt ist und ausschließlich auf der höchsten Ebene der russischen Machtpyramide existiert. Seine ideologischen Scheuklappen verhindern, dass er adäquat auf die realen Gegebenheiten in seiner Umgebung reagiert. Stattdessen forciert er eine Politik, die der Ideologie und dem Gebot zum Opfer fällt, keine Dogmen zu verletzen. Dazu zählt vor allem die kategorische Weigerung, die eigene Fehlbarkeit anzuerkennen. Dieses Phänomen, das Herfried Münkler als die «fortschreitende Verdummung von Autokraten» bezeichnet hat, ist vielfach aus der Geschichte bekannt und hat immer in die Katastrophe geführt. Die Erwartung, sich mit Wladimir Putin einigen zu können, ist folglich eine Erhebung der Hoffnung über den Verstand. Je länger der russische Präsident seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine fortsetzen kann, desto kleiner wird der Spielraum für weitere Fehleinschätzungen.

Wladimir Putin ist ein von weltanschaulichen Motiven geleiteter Diktator. Er ist bald 70 Jahre alt und bereit, seine Ziele mit allen Mitteln durchzusetzen. Die Legitimation dazu leitet er aus dem transzendentalen Gefühl absoluter Erhabenheit ab. Mittlerweile gibt es erste Anzeichen dafür, dass sich der Krieg in der Ukraine zu einem schrankenlosen Völkermord ausweiten könnte. Auch wenn etwaige Diadochen schon alarmiert sein mögen – eine Palastrevolte im Kreml wird letztlich ausbleiben. Zu groß ist die schlechthinnige Abhängigkeit der dortigen Akteure vom russischen Präsidenten. Der einzige Weg, Putin zu stoppen, besteht darin, rote Linien zu ziehen und ihn seiner militärischen und ökonomischen Potenziale zu berauben. Unter keinen Umständen darf er sich in Kiew mit dem Siegeslorbeer krönen. Dies zu verhindern, muss letztlich auch militärisch durchgesetzt werden.

Auch ein Volksaufstand bleibt vorerst unwahrscheinlich. Wie die am 18. März 2022 skurril inszenierten Feierlichkeiten zum Jahrestag der Krimannexion zeigten, ist das russische Volk nach wie vor den wahnhaften Ideen ihres Präsidenten besessen und glaubt leidenschaftlich an ihre baldige Verwirklichung. Das verschafft dem Regime dringend benötigte Zeit. Denn solange die Menschen Trost im Ritual finden, können innere Unruhen verhindert werden. Gleichwohl beginnen die Grenzen zwischen rationaler Ordnung und destruktivem Chaos in Russland allmählich zu verschwimmen. Erste Vorboten dieser Entwicklung sind bereits klar erkennbar. Entscheidend wird daher sein, wie Wladimir Putin darauf reagiert. Im Zweifel dürfte er weiter eskalieren und neue Grenzen überschreiten.

Das sollten seine Gegner im Westen niemals vergessen.

 


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