Über Zinsentscheidungen der EZB in Frankfurt am Main wird Tag und Nacht spekuliert.
Über Zinsentscheidungen der EZB in Frankfurt am Main wird Tag und Nacht spekuliert.


Frankfurt am Main – „Wir bei der Europäischen Zentralbank sorgen dafür, dass die Preise im Euro-Raum stabil bleiben. Warum wir das tun? Damit Sie mit Ihrem Geld morgen noch genauso viel kaufen können wie heute.“ So formuliert es die EZB auf ihrer Internetseite und lässt einen mit dieser Erklärung angesichts der dramatisch steigenden Inflation ziemlich irritiert zurück. Die Zentralbank der 19 Länder der Euro-Zone bezeichnet es als ihre wichtigste Aufgabe, die Preisstabilität zu garantieren. „Dies tun wir, indem wir dafür sorgen, dass die Inflation niedrig, stabil und vorhersehbar bleibt. So versuchen wir, Ihnen die Planung von Spar- und Konsumentscheidungen zu erleichtern.“

Im letzten Dezember stieg die Inflation im Euro-Raum aber auf ein Rekordhoch. Hierzulande kosteten Waren und Dienstleistungen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes durchschnittlich 5,3 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Im gesamten vergangenen Jahr stieg die Teuerungsrate im Vorjahresvergleich auf 3,1 Prozent und damit auf den höchsten Stand seit 1993. Geschuldet sind die Steigerungen unter anderem den vergleichsweise niedrigen Preisen in den ersten Corona-Monaten und den Folgen der sogenannten Energiewende. Wie eine YouGov-Umfrage ergab, kann jeder neunte Deutsche kaum noch seine Lebenshaltungskosten bezahlen. Die Menschen müssen sich dem Ifo-Institut zufolge aber noch auf weitere Preiserhöhungen einstellen. Timo Wollmershäuser, Konjunkturexperte des Münchner Instituts, weist darauf hin, dass die Unternehmen die gestiegenen Kosten für Energie, Vorprodukte und Handelswaren an ihre Kunden weitergeben.

Der Inflationsanstieg ist eng mit den aktuellen Zinssätzen und damit der Politik der Europäischen Zentralbank verbunden. Auch in Deutschland werden die Zinssätze von der EZB festgelegt, und deren Leitzins liegt seit Jahren bei null Prozent. Bis Ende 1998 war die Deutsche Bundesbank für die deutsche Geldpolitik zuständig und achtete immer auf ein hohes Maß an Preisstabilität. Mit dem Jahresbeginn 1999 wurde in den Staaten, die den Euro eingeführt haben, die Europäische Zentralbank für die Geld- und Währungspolitik verantwortlich. Die von ihr durchgesetzte Senkung des Leitzinses bedeutet, dass Privatpersonen, Unternehmen und Staaten Kredite zu günstigeren Konditionen aufnehmen können. Dies führt zwangsläufig zu höheren Ausgaben und zu einer steigenden Inflation. Seit Jahren verfolgt die EZB eine rigide Nullzinspolitik, um die finanziellen Spielräume der hochverschuldeten Euro-Staaten im Süden der EU zu erweitern. Die Politik des billigen Geldes ermöglicht den Staaten eine kostengünstige Neuverschuldung und dreht damit gleichermaßen an der Schulden- und Inflationsspirale. Der volkswirtschaftliche Zusammenhang ist schnell erklärt: Eine Politik niedriger Zinsen führt zu einer Erhöhung der Kreditvergabe und damit zur Ausweitung der Geldmenge. Nach der Quantitätstheorie befeuert ein solches Geldmengenwachstum eine Inflation der Preise von Gütern und Dienstleistungen.

Inzwischen bestreitet niemand mehr, dass die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank das Geldvermögen der Deutschen in erheblichem Maße schmälert. EZB-Kritiker sprechen deshalb auch von einer Enteignung der hiesigen Sparer. Anfang 2019 sagte Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank, zu der Problematik: „Die niedrigen Zinsen wirken sich weiterhin ungünstig auf die Ersparnisbildung in Deutschland aus.“ Nach Berechnungen seiner Bank beliefen sich die Kosten der Zinsdrückerei zwischen 2010 und 2018 auf rund 295,5 Milliarden Euro. Durch die lange Phase extremer Niedrigzinsen hätten die deutschen Privathaushalte bei Einlagen, Rentenpapieren und Versicherungen Verluste in Höhe von 533,5 Milliarden Euro zu verkraften gehabt, so die DZ Bank, die für ihre Berechnungen das Normalzinsniveau heranzog. Dem stünden für den genannten Zeitraum Zinsersparnisse bei Krediten in Höhe von 238 Milliarden Euro gegenüber. Für die deutschen Sparer ergaben sich von 2010 bis 2018 somit Zinseinbußen von fast 296 Milliarden Euro.

In der Corona-Krise mit wachsender Inflation verlieren die Sparer erst recht ein Milliardenvermögen. Pandemiebedingt konnten viele ihr Geld kaum ausgeben. Das landete oft auf unverzinsten Girokonten, was bei steigenden Preisen natürlich zu hohen Verlusten führt. Im letzten Oktober teilte die DZ Bank mit, dass Einlagen, Rentenpapiere und Versicherungen 2021 um durchschnittlich 2,3 Prozent entwertet würden. Der damit verbundene Kaufkraftverlust des privaten Geldvermögens läge voraussichtlich bei 116 Milliarden Euro. Das wären dann etwa 1.400 Euro pro Kopf, sagte Michael Stappel als neuer Chefvolkswirt der DZ Bank und Verfasser einer Studie über das Sparverhalten der Deutschen. Die Wertverluste durch Niedrigzinsen sind auch deshalb so hoch, weil viele risikoscheue Deutsche ihr Erspartes gerne auf Girokonten und klassischen Sparbüchern anlegen. Nach den Zahlen der DZ Bank befinden sich vom gesamten Geldvermögen der Privathaushalte 28 Prozent in sogenannten Sichteinlagen. Angesichts der immer höheren Teuerungsrate verliert das so aufbewahrte Vermögen mehr und mehr an Wert.

Warum viele deutsche Politiker trotz der massiv steigenden Inflation bei der EZB keine Abkehr von der lockeren Geldpolitik einfordern, ist mit dem fiskalischen Eigeninteresse des Staates zu erklären. Neben den extrem verschuldeten Südländern der Europäischen Union profitiert auch die für ihre Verhältnisse hochverschuldete Bundesrepublik von den niedrigen Zinsen. Der Staat kann durch das künstlich niedrig gehaltene Zinsniveau nicht unerhebliche Summen beim Schuldendienst einsparen. Seit der Finanzkrise 2008 ist die Durchschnittsverzinsung der deutschen Staatsschulden zur Freude des Bundesfinanzministers deutlich gesunken. Die Leidtragenden der Niedrigzinspolitik sind die deutschen Sparer – Staats- und Bürgerinteresse sind also auch in dieser Frage nicht mehr deckungsgleich.

Zuerst beteuerten viele Währungshüter treuherzig, dass es sich bei der Rekordinflation bloß um ein kurzzeitiges Phänomen handele. Nun aber mehren sich die Stimmen, die vor einer längeren Teuerungsphase warnen. Bislang hat die EZB im Gegensatz zu anderen Notenbanken nichts gegen die Inflation unternommen und den Leitzins starrsinnig bei null Prozent gehalten. Es sei voreilig gewesen, „dass sich EZB-Präsidentin Christine Lagarde gegen eine erste Zinsanhebung im Laufe dieses Jahres ausgesprochen hat“, kritisierte jüngst der „Wirtschaftsweise“ Volker Wieland. „In den USA hat man für das laufende Jahr bereits eine starke Leitzinserhöhung in Aussicht gestellt, um die Inflation zu bekämpfen. Diese Tür hätte sich die EZB auch offenhalten sollen.“

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