Sofia – Die Wirtschaft in der Europäischen Union wird durch den Ukraine-Krieg schwer belastet. Deshalb hat die EU-Kommission ihre Wachstumsprognose deutlich nach unten korrigiert. Laut ihrem vorgelegten Frühjahrsgutachten wächst die europäische Wirtschaft im Jahr 2022 nur um 2,7 Prozent – vor Kriegsausbruch hatte man noch mit vier Prozent gerechnet. Brüssels Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni nannte als Hauptgründe die kriegsbedingt weiter gestiegenen Preise für Energie und andere Rohstoffe sowie erhebliche Störungen der globalen Lieferketten. So belasteten die Corona-Maßnahmen in China die Weltwirtschaft und damit auch Europa, argumentierte der Italiener.
Mitte Mai dieses Jahres hat die Deutsch-Bulgarische Industrie- und Handelskammer (DBIHK) im Internet die faktenreiche Publikation „Bulgarien: Wirtschaftsstandort mit vielen Chancen“ veröffentlicht. Das neue Informationsformat soll potenzielle Investoren mit den deutsch-bulgarischen Wirtschaftsbeziehungen vertraut machen und dabei die aktuellen ökonomischen Herausforderungen berücksichtigen. Ein Hauptanliegen ist es natürlich, die wirtschaftlichen Vorzüge des Balkanlandes herauszustellen. Die Publikation umfasst neben der Darstellung nationaler Wirtschaftsindikatoren, der Handels- und Investitionsdaten und einer SWOT-Analyse auch noch Praxiserfahrungen und unternehmerische Erfolgsbeispiele. Man erfährt, dass Investoren an Bulgarien vor allem die niedrigen Arbeitskosten und Steuersätze sowie den leichten Zugang zu öffentlichen Subventionen (der Europäischen Union) schätzen. Jahr für Jahr führt die Deutsch-Bulgarische Industrie- und Handelskammer eine Umfrage über das Geschäftsumfeld ihrer Mitgliedsunternehmen durch. Die Frage „Würden Sie heute wieder Bulgarien als Investitionsstandort wählen?“ beantworten sie regelmäßig mit einem klaren Ja. Ausländische Investitionen gedeihen dort in einem positiven Umfeld, insbesondere die Baubranche und die Industrie investierten 2021 mehr als im Vorjahr. Bulgarien hofft vom Corona-befeuerten Trend zu profitieren, dass Lieferketten wieder verstärkt nach Europa zurückverlagert werden.
Aber die bulgarische Wirtschaft hat auch mit einigen strukturellen Problemen zu kämpfen. Unklar ist derzeit, wie sich die von der Europäischen Union geforderte Energiewende auf das nationale Wirtschaftswachstum auswirken wird. Laut der Europäischen Kommission gehört Bulgarien zu den wichtigsten Erzeugern von Kieselerde, Silber, Tellur, Kadmium, Kupfer sowie Mangan. Brüssel geht davon aus, dass die Nachfrage nach diesen Materialien bis 2030 um das Fünf- bis Zehnfache und bis 2050 um das Vierzigfache für jedes der Segmente der erneuerbaren Energien steigen wird. Die Kommission hält den Balkanstaat deshalb in der EU-Lieferkette für sehr gut positioniert. Der Leiter des zuständigen Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, Thorsten Geissler, glaubt, dass die allgemeinen Klimaschutzmaßnahmen und der „Green Deal“ der Europäischen Union auch Bulgarien große Chancen bieten. Es gelte, durch den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ein Wirtschaftswachstum zu erzeugen, das die Lebensqualität der Menschen erhöht. Geißler lobt die Umweltschutzprogramme vieler bulgarischer Städte und hebt in diesem Zusammenhang das Programm „Grünes Sofia“ hervor, das Umweltinvestitionen in Höhe von 840 Millionen Euro vorsieht. „Mit diesen Programmen setzten bulgarische Städte auch auf europäischer Ebene Maßstäbe“, meint der Mitarbeiter der CDU-nahen Stiftung.
Deutschland ist Bulgariens wichtigster Wirtschaftspartner. Deutsche Unternehmen gehören zu den aktivsten ausländischen Investoren, und die DBIHK ist die größte ausländische Wirtschaftskammer in dem Land. Für die heimische Tourismuswirtschaft sind deutsche Urlauber eine außerordentlich wichtige Zielgruppe. Fast 1.500 Firmen mit deutscher Beteiligung sind in Bulgarien tätig. Deutsche Unternehmen sehen das südosteuropäische Land als Absatzmarkt und Investitionsstandort mit interessanten Forschungsmöglichkeiten und großen Entwicklungspotenzialen. 2020 haben sie rund 308 Millionen Euro in Bulgarien investiert, wie die dortige Nationalbank meldete. Der größte Teil des Geldes wurde in den Aufbau neuer Produktionsstandorte gesteckt. Den Firmen macht aber zunehmend der Personalmangel infolge der Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte in andere EU-Staaten zu schaffen.
Im letzten November fanden in Bulgarien Präsidentschafts- und Nationalversammlungswahlen statt. Die Deutsch-Bulgarische Industrie- und Handelskammer führte danach eine Blitzumfrage durch, um die Erwartungshaltung der DBIHK-Mitglieder zu ermitteln. Sie wollte wissen, welche Erwartungen an die künftige Regierung aus unternehmerischer Sicht bestehen. Knapp 70 Prozent der teilnehmenden Unternehmen nannten die „Bekämpfung von Korruption und Kriminalität“ und mehr als 64 Prozent die „Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung vorantreiben“. Danach folgten „Berechenbarkeit der Wirtschaftspolitik“, „Stabilisierung der Energiepreise“ und „Politische und soziale Stabilität“. Die Frage „Welche Veränderung der Interaktion zwischen dem Präsidentenamt und der Wirtschaft erwarten Sie nach der Wahl?“ beantworteten fast 40 Prozent mit „Stärkung des Images von Bulgarien als Wirtschaftsstandort“.
Ende 2021 reagierte die neue Regierung auf die Reform- und Transparenzforderungen und kündigte eine deutliche Verschlankung des aufgeblähten Staatsapparates an. Bis Ende 2022 werde man 15 Prozent der insgesamt etwa 250.000 Beamten entlassen. Die Presse des Landes quittierte diese Pläne mit großer Zustimmung. Die bulgarische Tageszeitung „Duma“ schrieb: „Das Thema ist heikel, aber eines ist klar: Die Staatsverwaltung muss modernisiert und entpolitisiert werden. Es ist ein öffentliches Geheimnis, dass die zahlreichen Verwaltungsstrukturen, die während des letzten Jahrzehnts entstanden, dazu da waren, Parteifreunde durchzufüttern und gegen Parteifeinde vorzugehen.“ Aber die Zahl der Beamten sei „weniger irritierend als die geringe Effizienz ihrer Arbeit und die ständige Erhöhung ihrer Gehälter“. Nicht nur deutsche Unternehmen hoffen, dass Bulgarien den eingeschlagenen Modernisierungskurs fortsetzt.
Dieser Tage besuchte der bulgarische Präsident Rumen Radew Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz. In dem Gespräch mit Scholz standen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie bilaterale, europapolitische und wirtschaftliche Fragen im Mittelpunkt. „Wir haben von Deutschland volles Verständnis für eine Ausnahmeregelung bei den Ölimporten“, sagte der Bulgare danach und betonte, dass er mit der Haltung der deutschen Seite in allen für sein Land wichtigen Fragen zufrieden sei. Am Ende seiner Visite sprach Radew mit in Hamburg lebenden Landsleuten und beteiligte sich an einem deutsch-bulgarischen Wirtschaftsforum. Die Beziehungen zwischen Sofia und Berlin scheinen trotz der schwierigen internationalen Großwetterlage völlig ungetrübt zu sein.